Ich hab nicht an dich gedacht // Vom schlechten Gewissen an guten Tagen
Gestern war Weihnachten. Weihnachten, das Fest der Liebe, der Besinnlichkeit, der Geborgenheit. Den ganzen Vormittag war ich beschäftigt mit Vorbereitungen. Da war der Hausputz, der Kuchen für heute musste gebacken werden und nebenbei wollte ich auch noch etwas für mich tun.
Nachmittags, da kamen dann meine Eltern und nahmen die beiden Mädels mit ins Kino, damit wir ein bisschen Luft hatten. Die konnten wir nämlich ganz gut gebrauchen, denn ehrlich, unverpackte Geschenke wollte ich nicht unter den Weihnachtsbaum legen.
Und dann wurde es Abend. Die Kindermesse war, der Lachs brutzelte im Ofen und überraschend besuchte uns noch ein Freund aus Kindertagen mit seiner Herzdame. Wir hatten ein wundervolles Gespräch, bevor wir alle wieder beisammen waren und aufgetischt wurde.
Nach dem ein oder anderen Glas Wein für uns Erwachsene und Unmengen an Mousse au Chocolat für die Kinder ging es für uns alle in die Kinderzimmer, denn das Christkind kommt hier nicht einfach so. Die Betten müssen aufgeschüttelt werden.
Wir saßen alle zusammen, beobachteten, genossen, freuten uns und waren glücklich. Ohne Einschränkung, ohne Gedanken an etwas anderes als strahlende Kinderaugen verschwendet zu haben. Wir redeten, die Kinder spielten und wir hatten einen tollen Heiligabend.
Und dann lag ich nachts wach im Bett. Hatte ich nicht etwas vergessen? Jemanden vergessen? Es war Weihnachten und ich habe keine Kerze für dich angezündet. Weihnachten, ohne dass ich mich ins Auto gesetzt und dich besucht und ein paar leise Worte geflüstert habe. Ohne, dass ich auch nur daran gedacht habe, dass du fehlst. Direkt schlich sich das schlechte Gewissen ein. Das Gefühl, dass ich dich einfach vergessen, nicht an dich gedacht, habe, obwohl du ein so wichtiger Teil in meinem Leben warst.
Doch dann überlegte ich mir, ob du wollen würdest, dass ich traurig unter dem Weihnachtsbaum sitze. Ob es etwas ändern würde, dass ich dich an solchen Tagen nachts dann doch schrecklich vermisse. Dass das schlechte Gewissen, meine Gedanken voll und ganz auf meine Kinder zu lenken, die Stimmung drückt.
Und ich weiß, du würdest wollen, dass ich lache, dass ich lebe und liebe. Du würdest wollen, dass ich genieße – mit jeder Faser meiner Körpers. Hast du doch selbst immer an deine Kinder und Enkel gedacht und hättest auch dein letztes Hemd für uns gegeben. Für mich.
Nein, eigentlich brauche ich kein schlechtes Gewissen haben, denn ich mache genau das, was du dir wünschen würdest. Ich lebe. Und ich sauge die neuen Erinnerungen auf, die sich zu den Erinnerungen mit dir gesellen. Ich liebe und fühle so viele Dinge in mir und meinen Kindern, die von dir sind. Und auch, wenn ich gestern nicht an dich dachte, so tue ich es jetzt. Denn du bist ein Teil von mir. Meine Vergangenheit, meine Kindheit, die Erinnerung an eine geborgene Kindheit.
Heute kommen die Ziehgroßeltern der Mäuse. Herzmenschen. Und wir werden lachen und essen und genießen. Uneingeschränkt von negativen Gefühlen. Denn das ist Weihnachten, das ist das Gefühl der Geborgenheit und Liebe.
Und ich bin mir sicher, Opa, du bist dabei. Im Lachen des Frosches, beim Essen der Vanillekipferl nach Omas Rezept, beim Sinnieren über vergangene Festtage.
Ein schlechtes Gewissen muss ich wirklich nicht haben, auch wenn ich nicht bewusst an dich denke, denn du bist ja da. Überall. In allen Gesten, denn du hast mich geprägt. Uns geprägt. Weihnachten ohne dich ist gleichzeitig ein Weihnachten mit dir.
Ich werde dich besuchen. Nicht heute, auch nicht morgen. Aber noch dieses Jahr. Und ich bringe dir eine Kerze mit, erzähle dir von Weihnachten, von den strahlenden Augen der Kinder, von der Ente mit Blaukraut, die du so gern gegessen hast. Vielleicht werde ich auch ein paar Tränen vergießen, denn du fehlst noch heute. Aber ich werde auch mit einem Lächeln wieder nach Hause gehen, zu meinen Kindern, deinen Urenkeln, denn sie brauchen mich im Hier und Jetzt. Ohne schlechtes Gewissen.
Die Julie