Chancengleichheit durch Homeschooling? Warum das nicht funktionieren kann und welche Faktoren das Kultusministerium nun beachten sollte, erzähle ich nun aus Elternsicht.
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Chancengleichheit durch Homeschooling? Von wegen!

Christine Finke von „Mama arbeitet“ lässt sich seit der Coronaferien ziemlich oft politisch auf Twitter über den die dadurch entstehenden Bildungsdifferenzen zwischen den einzelnen Kindern aus. Chancengleichheit durch Homeschooling gibt es nicht. Nicht, wenn man seine Wohlstandsbubble verlässt und über den Tellerrand schaut. Erst musste ich ein bisschen schlucken, denn Christine schreibt und hinterfragt sehr kritisch. Aber hat sie recht?

Hier bei uns sieht Homeschooling folgendermaßen aus:

Die Kinder stehen morgens auf, wenn sie ausgeschlafen sind. Das ist irgendwo zwischen 6 und 7 Uhr. Dann wird gefrühstückt, im Anschluss angezogen und dann schnappen wir uns jedes Kind für etwa 2 Stunden. Hintereinander, nicht parallel, denn bei den drei Kindern schaukelt sich das Ganze gern hoch, bis gar nicht mehr ans Lernen gedacht wird.

Mit dem Zwerg arbeiten wir also mit Engelsgeduld Rechnen im 100er Bereich ab und üben die Schreibschrift. Nebenbei soll er Nomen und Verben finden und Artikel bestimmen. Außerdem müssen wir nun Kresse für den HSU-Unterricht anpflanzen. Wenn der Zwerg Bock hat, sind wir binnen weniger Minuten fertig. Ungelogen. Wenn nicht, dann könnte er den ganzen Tag dort sitzen, Däumchen drehen und harrt eben aus, bis ich aufgebe. Meist lernt er mit Anreiz (ja, es ist Bestechung) besser. Und manchmal, manchmal, da haben wir beide, er und ich, keinen Nerv mehr, geben auf und vertagen das Ganze auf den nächsten Tag. Hinzu kommen liebevolle Ideen für jeden Tag, die die Lehrkraft zusendet.

Die Prinzessin zieht ihr Ding durch. Aber sie ist extrem selbstständig, was Schule betrifft, läuft ihr ziemlich schnell von der Hand. Sie bearbeitet alle ihre Aufgaben am liebsten allein und bringt sie im Anschluss zur Kontrolle. Easy going. Außerdem schreibt sie ihrer Lehrkraft öfter Emails, die alle liebevoll und individuell beantwortet werden. Ich finde die Interaktion unheimlich toll!

Und die Große, ja, die hat am meisten zu tun. Bei ihr werden die Aufgaben, nicht wie bei den beiden Grundschulkindern per Mail verschickt, sondern sie wird über eine Plattform unterrichtet. Dort gibt es regelmäßig Onlinemeetings, Abgabefristen und Fragerunden, falls eines der Kinder Probleme mit dem Schulstoff hat. Das Pensum ist enorm. Naja, ich habe hier ein Kind mit LRS, das Probleme mit der Aufmerksamkeit hat und dazu neigt, Dinge gern mal auszublenden, die erledigt werden müssen. Außerdem durften wir extra für sie einen eigenen PC anschaffen, weil die Aufgaben übers Smartphone schlichtweg ein Graus sind. Das Lernpensum am Gymnasium ist nicht ohne und ab und an fallen auch einfach Aufgaben hinten runter, weil es zuviel ist.

Wir stemmen das – wir können das stemmen

Dass wir privilegiert sind, ist mir bewusst. Ich arbeite selbstständig und Manuel ist momentan daheim. Wir sind beide verfügbar und kommen (noch) ohne Probleme mit dem Schulstoff klar. Keiner von uns arbeitet in einem systemrelevanten Beruf, wir sind nicht alleinerziehend.

Außerdem haben wir einen Ausgleich. Da sind die Geschwisterkinder, da ist der Garten und es gibt genügend Möglichkeiten, sich allein oder mit anderen zu beschäftigen. Der Vorteil an einer Großfamilie ist ganz klar, dass man trotz Isolation nie allein ist. Aber würde auch der Ausgleich, die Option, einfach mal für 20 Minuten im Garten im Trampolin hüpfen oder Fangen spielen wegfallen, dann glaube ich, wäre das Projekt Homeschooling kaum stemmbar.

Auch finanziell geht es uns gerade so gut, dass wir spontan einen (im zweistelligen Bereich liegenden) PC für die Große kaufen konnten, weil sie sonst arge Probleme hätte, die Menge an Aufgaben auch nur im Ansatz zu bewältigen. Das ist Luxus. Das alles ist Luxus, den bei weitem nicht jeder hat. Ich denke, auf dem Gymnasium meiner Großen geht es fast allen Kindern so, dass sie Zugang zur Plattform haben, das Ganze mit den Eltern ausarbeiten können. Auf anderen Schularten sieht das sicher anders aus.

Chancengleichheit durch Homeschooling? Von wegen!

Was ist mit den Eltern, die keinen Drucker haben und der finanzielle Puffer für eine Spontananschaffung für 304 Arbeitsblätter fehlt? Was ist mit Eltern, die schlichtweg die Kapazitäten (körperlich, nervlich, zeitlich) dafür nicht haben, den Schulstoff durchzukauen, das Kind zu motivieren? Und was ist mit Eltern, die ihre Kinder nicht unterstützen können bzw. wollen?

Ja, was ist mit den Kindern aus schwierigen Elternhäusern? Was ist mit den Kindern, für die die Schule ein Schutzraum war und die nun kaum bis keine Unterstützung haben, also auf sich allein gestellt sind? Und was ist mit Kindern, die sich mit ihren Geschwistern und Eltern Laptop, PC und Medien teilen müssen und so viel schwieriger an die vorgegebenen Schulmaterialien kommen?

Und da sind die notbetreuten Kinder und die Eltern in systemrelevanten Berufen noch nicht mit eingezählt. Auch die Eltern, die sich mit Homeoffice über Wasser halten müssen, können hier, wenn sie beides zu 100 % erledigen wollen, nur scheitern. Da fehlen Alleinerziehende, die so schon täglich einen Balanceakt zwischen Job, Kind und Selfcare überstehen müssen. Und da fehlen kinderreiche Familien, die durch die verschiedenen Charaktere, Ansprüche und Altersunterschiede einfach nur ins Schleudern geraten können.

Ich bin eine privilegierte weiße Frau und gerate trotz freier Zeiteinteilung, trotz der Sicherheit, dass wir auch ohne meine Einnahmen über die Runden kommen, an meine Grenzen. Wie es den vielen anderen Menschen geht, die an so vielen Fronten gleichzeitig kämpfen und sich aufopfern müssen, mag ich mir nicht ausmalen.

Ich finde es ja ganz süß, dass die GEW zum Beispiel Lerntipps fürs Homeschooling teilt. Aber ehrlich: WER KANN DAS STEMMEN?!

Vor allem: Was und wie viel verlangt und den Kindern vermittelt wird, ist nicht nur abhängig von der Schule und der Schulart, sondern auch von der Lehrkraft selbst. Klar hangeln sich alle am Lehrplan entlang. Allerdings hat wohl jede Lehrkraft selbst für sich eine gewisse Vorstellung, welchen Wissensstand und welches Pensum erreicht werden soll.

Und dann lese ich immer wieder, dass Schulen die zuhause erledigten Aufgaben benoten wollen.

Vielleicht bin ich da ein wenig weich gewaschen. Aber geht’s noch? So kann man Kinder vorführen, ausschließen und diskriminieren. Auch, wenn die Noten bindend und zum Vorrücken in die nächste Jahrgangsstufe verwendet werden.

Genau so werden die Kinder, die daheim, warum auch immer, die Aufgaben nicht bewältigen konnten, an den Pranger gestellt. Als ob sie nicht schon genug benachteiligt werden.

Das bayerische Kultusministerium sagt zu Hausaufgaben folgendes: Hausaufgaben werden nicht unter Aufsicht der Schule, also nicht unter prüfungsmäßigen Bedingungen angefertigt. Sie sind daher grundsätzlich keine Leistungsnachweise im Sinne des Art. 52 Abs. 1 BayEUG (Bayerisches Erziehungs- und Unterrichtsgesetz). Und nichts anderes sind die Aufgaben, die daheim erledigt werden.

Allerdings dürfen sie anderweitig bewertet werden, was ich angesichts der unterschiedlichen Lernbedingungen als eine Frechheit und einen Schlag ins Gesicht jedes bemühten Elternteils empfinde, das die Aufgaben nicht bewältigen kann. Der Umstand, dass Hausaufgaben grundsätzlich keine Leistungsnachweise im Sinne des Art. 52 Abs. 1 BayEUG sind, schließt eine indirekte Bewertung der Hausaufgaben über entsprechende Rechenschaftsberichte selbstverständlich nicht aus. So können Gegenstände, die zu Hause zu lernen waren, z. B. Vokabeln, abgefragt und bewertet werden. Dabei handelt es sich um Leistungen im Sinne des Art. 52 Abs. 1 BayEUG. (Quelle KM Bayern)

Wieder ist es das Schulsystem, das eigentlich für alle zugänglich alles aufbereiten sollte, das Kinder bestimmter Bildungsschichten und Familienformen diskriminiert. Chancengleichheit durch Homeschooling? Am Hintern!

Vor allem: Je länger die Schulen geschlossen sind, desto größer werden die Diskrepanzen. Desto mehr bleiben Kinder bildungsschwacher und sozialschwacher Familien auf der Strecke. Ein Ende nach Ostern sehe ich jedenfalls nicht. Nicht, nachdem die Ausgangsbeschränkungen für viele noch immer ein Witz sind und sie Schlupflöcher suchen. Aber das ist ein anderes Thema.

Meine Wünsche, wie es nach der Coronaquarantäne weitergehen soll, sind vielschichtig

Ich fände es zum einen toll, wenn es freiwillige Leistungen gibt. Leistungen, die die bisher gesammelten Noten verschlechtern, dürfen gestrichen werden. Den Kindern darf kein Nachteil daraus entstehen, dass sie das vorgegebene Pensum daheim nicht stemmen konnten. Allerdings wäre es schön, wenn Kinder, die dem gerecht werden konnten, die Option haben, die Leistungsnachweise freiwillig zu erbringen.

Außerdem wäre das doch nun die perfekte Gelegenheit, auch ein Semestersystem für die Schulen einzuführen. Ich meine, Homeschooling ging ja auch nie, bis man es kurzfristig aufgrund der Pandemie auf die Beine stellen konnte. Warum also nicht fair sagen, dass es auch die Möglichkeiten gibt, halbjährlich in die nächste Klassenstufe zu wechseln? Gerade, da viele Grundschulen wieder Kombiklassen haben, zerstört das auch keine Klassengemeinschaften.

Das ginge dann übrigens auch einher mit der Idee, dass es bis Dezember so etwas wie „Gleitunterricht“ gibt. Dass Kinder, die markante Defizite im Schulstoff aufweisen, in der Schule Intensivierungskurse besuchen können. Kurse, die sie in den jeweiligen Fächern dort abholen, wo sie stehen und sie so fördert, dass sie bis Dezember in etwa auf dem Stand der anderen Kinder sind. (Hier gehe ich übrigens davon aus, dass die Schulen bis mindestens Mitte Mai dicht bleiben.) Gerade in den Mittelschulen und auch Grundschulen denke ich, sind die Diskrepanzen nach diesen Coronaferien riesig.

Auf jeden Fall muss eine Lösung gefunden werden, bei der Kinder nicht einfach durchs Raster fallen, weil die Basis für sie nicht daheim sondern in der Schule liegt.

Denn Schule ist mehr als eine Aufbewahrungsanstalt. Schule ist mehr als blindes Lernen und das Erlernte wieder auskotzen. Die Schule – sowohl das Gebäude als auch die Institution an sich – ist für viele Kinder Rückzugsort, Schutzraum, die einzige Option, Sozialkontakte zu pflegen. Diese Kinder kommen jetzt zum Teil schon an die Grenzen ihrer Kräfte. Sie dann noch zusätzlich dazu bestrafen, sie aus der Klassengemeinschaft zu nehmen und sie wiederholen zu lassen, weil die gewünschten Hausleistungen nicht erbracht werden konnten, fühlt sich nicht nur falsch an. Es ist falsch!

Chancengleichheit durch Homeschooling ist nicht gegeben, aber wie geht es weiter?

Wie gesagt, ich wünsche mir eine Lösung, die fair und gerecht ist. Ich wünsche mir, dass sowohl vom Kultusministerium (jedem einzelnen in jedem Bundesland) als auch von den Lehrkräften die Einsicht kommt, dass die Benotung der Corona-Aufgaben weder fair noch sinnvoll ist.

Auf jeden Fall hat diese Quarantäne das bewirkt, wovon es zuvor ewig hieß, es ginge nicht: Homeschooling – auch wenn es bei weitem nicht für alle geeignet oder machbar ist.

Vielleicht wäre das auch endlich der Zeitpunkt, weg von einer Schulpflicht hin zu einer Bildungspflicht zu kommen. Weg von diesem „Nur im Schulgebäude kann Unterricht stattfinden!“. Hach ja, das wäre schön.

Auch, dass man jetzt vielleicht nicht mehr die ganze Klasse durchtelefonieren muss, wenn man krank ist, um einen Hefteintrag nachzuholen, könnte jetzt wegfallen, indem die Lehrkräfte die Plattformen für Ausfälle einfach weiter nutzen. Wäre ja dann auch wieder ein kleiner Schritt hin zur Fairness oder?

Wie es tatsächlich weiter geht, weiß ich nicht. Aber ich hoffe, dass das Kultusministerium sich bewusst ist, dass es hier einiges zu tun gibt. Und dass die einfachste Lösung, nämlich einfach so weitermachen wie bisher, nicht die beste ist.

Herzlichst, die Julie

 

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Weitere Schulthemen findest du hier. Viel Spaß beim Stöbern!

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4 Kommentare

  • Dresden Mutti

    Ein wirklich sehr guter Text. Ich denke mir auch, wie das funktionieren soll, wenn die Kinder schon online Meetings haben und an den PC müssten, an dem ich ja Homeoffice mache (nicht flexibel , von 9-15 Uhr ist Kernarbeitszeit). Zum Glück haben wir noch kleinere Kinder und die Schulaufgaben werden, wie du auch beschrieben hast, per Mail/WhatsApp verschickt. Und nicht benotet. Viele Grüße, Nadine

    • Manuel Stoll

      Zumindest mein Headset muss ich dazu immer zur Verfügung stellen, denn bei fünf Kindern im Haus ist es so leichter der Lehrerin zu folgen 😉
      Nun hoffen wir nur noch, dass bald der Bote mit unserer Druckerpatrone kommt, denn das tägliche Ausdrucken für drei Schulkinder geht wirklich gut auf die Patrone.
      In diesem Sinne: Weiter durchhalten und schauen, was die Zukunft bringt.

  • Kisa

    Toller Text und so wahr! Krass, wie ihr das mit Fünfen hinbekommt…hier ist es mit dreien schon manchmal schwierig. Das mit dem Paypal funktioniert bei mir leider nicht. Wenn ich mich einlogge, komme ich immer auf die normale Startseite :((

    • Manuel Stoll

      Besten Dank für den Hinweis. Der Techniker (also ich) hat es inzwischen behoben, auch wenn ich nicht wusste, dass die Links ablaufen können.
      Wie? Mit Sarkasmus, Timing und einer geraden 5 (sehr doppeldeutig bei uns …). Danke für die lobenden Worte!

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