Du musst da jetzt durch // Vom Begleiten und Zulassen
Neulich kam die Große von der Schule heim und war bedrückt. So in sich gekehrt und ruhig erlebe ich sie selten. Natürlich wollte ich wissen, was sie beschäftigt, doch sie wollte so gar nicht mit der Sprache herausrücken. Also ließ ich sie. Und erzählte von unserem Vormittag. Während ich also ruhig beim Essen erzählte, dass der Frosch beim Einkaufen brav war, aber beim Spaziergang keinen Meter laufen wollte, sprudelte es aus ihr heraus.
Mama, ich habe mir heute weh getan. Und weil ich deswegen geweint habe, haben die anderen mich ausgelacht. Die sagten, ich sei eine Heulsuse!
Bähm! Mein Mäuschen hatte sich also verletzt – das Schienbein sah wirklich fürchterlich aus und hatte wohl ordentlich geblutet – und sie sollte nicht weinen, weil das nur Heulsusen machen?
Während sie schniefend erzählte, was passiert war, lief ich um den Tisch, nahm sie in den Arm und streichelte ihr die tränennassen Haare aus dem Gesicht. Sie weinte. Nicht, weil ihr das Bein so weh tat, sondern weil die Reaktion ihrer eigentlichen Freunde sie so verletzt hatten.
Am liebsten hätte ich direkt die Eltern, oder noch besser die Kinder selbst, darauf angesprochen und meiner Wut Luft gemacht. Wenn etwas weh tut, dann darf man weinen. Man darf zu seinen Gefühlen stehen. IMMER! Was sind das für Kinder, die lieber lachen, statt Hilfe anzubieten oder zu fragen, ob alles okay ist?
Aber ich ließ es. Ich ließ es, weil sie mich darum bat und nicht wollte, dass da noch mehr aufkocht.
In der kommenden Zeit hatten wir immer wieder Erlebnisse, bei denen sich die Große verletzte.
Entweder sie fiel durch Blödeleien vom Sofa oder stolperte über ihre eigenen Füße, Dinge eben, die Kindern passieren, wenn sie in Gedanken woanders sind. Dabei bemerkten wir Eltern immer mehr, wie sie versuchte, den Schmerz zu verbergen und die Zähne zusammenzubeißen, damit ja keiner bemerkt, dass ihr Tränen die Wangen herunterlaufen.
Immer wieder sprach ich sie darauf an, dass sie die Tränen zulassen darf. Doch ihre Reaktion war immer die gleiche. Vielleicht versuchte ich auch einfach zu sehr, sie zu ermutigen, zu sich selbst zu stehen.
Nein, Mama! Da ist NICHTS! Mir tut NICHTS weh!
Sie hatte also durch ihre Mitschüler, die eigentlich ihre Freunde waren, gelernt, sich zu verstellen, zu lügen, wenn ihr etwas fehlt, sich zu verschließen. Und ich konnte das nicht ändern. Wir konnten ihr nur beistehen und sie bestärken.
Dann waren zwei Herzmenschen zu Besuch. Und wie es dem Tollpatschmädchen eben ergeht, verletzte sie sich blutig am Fuß. Durch Unachtsamkeit und ein abgebrochenes Plastikstück. Zuerst konnte sie die Tränen nicht zurück halten. Ich versorgte schnell ihre Wunde und tröstete sie. Doch nach kurzem zog sie sich zurück. Sie erklärte mir, es tue gar nicht mehr weh, aber sie wolle sich aufs Sofa legen. Sie musste ja unserem Besuch imponieren. Er könnte ja schließlich auch lachen, wenn er sieht, sie ist nicht tapfer.
Abends, als es daran ging, sich fürs Bett fertig zu machen, schlug sie sich das Schienbein am Bett an. Dabei brachen alle Dämme. Sie weinte und weinte, während ich sie auf meinen Schoß zog und trösten wollte. Doch sie stieß mich weg und schickte mich aus ihrem Zimmer. Das musste ich akzeptieren
Also ließ ich sie in Ruhe.
Kurze Zeit später rief der Zwerg die Treppe herunter, dass die große Maus noch immer weint. Diesmal fragte ich nicht, ob ich in ihr Zimmer darf, sondern ging hinein, nahm sie in den Arm und wippte sie langsam. Dann brach es aus ihr heraus.
Mama, warum lüge ich immer? Warum mache ich das? Das ist doch falsch!
Sie schluchzte und kuschelte sich ein. Und ich schaukelte sie in meinen Armen und versuchte, die passenden Worte dafür zu finden. Worte, die ihr die Angst vor der Wahrheit und den Gefühlen nehmen. Die sie ermutigen, ehrlich zu sein und zu ihren Tränen zu stehen.
Weißt du, Maus, ich glaube, du schwindelst, um dich vor deinen Freunden zu schützen oder? Aber weißt du was? Hier, zuhause, da musst du dich nicht verstellen. Denn hier sind Mama und Papa und deine Geschwister. Und wir sind eben deine Familie und nicht deine Freunde. Hier darfst du „du“ sein. Ohne Kompromisse. Denn wir haben dich nicht weniger lieb, wenn du sagst, was du denkst und zeigst, was du fühlst. Wir haben dich genau so, wie du bist, lieb. An dir ist nichts verkehrt, sondern alles richtig!
Während sie sich langsam beruhigte, flüsterte ich immer wieder „Du bist gut so, wie du bist!“ und strich ihr übers Haar. Nach und nach atmete sie langsamer, hörte auf zu schluchzen und wurde ruhiger. Als sie wieder komplett beruhigt war, kuschelte sie sich in ihre Decke und wollte schon bald einschlafen.
Und ich saß grübelnd da.
Wie gern würde ich ihr die Last von den Schultern nehmen. Wie gern würde ich diese Kinder anschreien, ob sie noch ganz sauber sind, ein Kind auszulachen, das sich verletzt.
Aber ich kann es nicht. Und ich darf es auch nicht. Da muss sie durch. Ganz alleine. Das, was wir tun können, ist, ihr Mut zu machen, sie zu bestärken, zu sich und ihren Tränen zu stehen und Abstand zu nehmen zu den Kindern, die aus dem Schaden anderer einen Nutzen ziehen. Leichter gesagt als getan. Doch ich denke, mit dem letzten Gespräch haben wir schon einen guten Anfang gemacht.
Denn sie muss sich den Mitschülern stellen, ich bin nicht dabei. Sie muss lernen, es auszuhalten, sich zu wehren und ihre Gefühle zuzulassen. Und ich muss lernen, es zuzulassen, dass meine Kinder auch negative Erfahrungen machen müssen. Erfahrungen, vor denen ich sie nicht schützen kann.
Aber die Große weiß, wir sind da. Immer. Hier muss sie sich nicht verstellen und kann sie selbst sein.
Und manchmal frage ich mich „Wie erziehen Eltern, deren Kinder bewusst andere mobben? Sind die Kinder selbst so unzufrieden, dass sie sich nur gut fühlen, wenn andere am Boden liegen? Macht es Spaß, nochmal nachzutreten?“.
Mobbing macht nur solange „Spaß“, solange man auf der Mobberseite steht!
Herzlichst, die Julie
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